Konflikteskalation

Das Grundprinzip der Deeskalation und der Selbstverteidigung ist das Erkennen von Situationen, die Analyse des eigenen Verhaltens sowie des Verhaltens des anderen und die daraus resultierende Steuerung der Eskalation. In Deeskalationsschulungen oder in Selbstverteidigungskursen wird häufig als erster Lösungsansatz zur Deeskalation empfohlen, sich aus dem Weg zu gehen oder die Situation zu verlassen. Grundlage für diesen Rat ist das Drei-Phasen-Konflikteskalations-Modell: die Voreskalations-, die Eskalations- und die Nacheskalationsphase. Problematisch an diesem Modell ist, dass man die Eskalation als Eskalation aber erst wahrnimmt, wenn sie schon stattfindet und schon fortgeschritten ist. Wie schon beschrieben, kann der Mensch ja nur bewusst erleben, was er kennt. Die meisten Menschen erkennen eine Konfliktsituation demnach erst, wenn der Konflikt schon vorhanden und die Eskalation schon weit fortgeschritten ist. Wie soll ein Mensch, der keine Ahnung hat, was eine Voreskalation ausmacht, dieser bereits im Vorfeld aus dem Weg gehen oder sie verlassen, geschweige denn analysieren oder steuern? Ein weiteres Problem des einfachen Drei-Phasen-Modells ist, dass die Hauptphase – die Eskalation selbst – nicht weiter unterteilt ist. Tatsächlich befinden sich Konfliktpartner aber häufig in unterschiedlichen Phasen der Konflikteskalation. Dies führt zu Fehleinschätzungen, die am Ende fatal für den Ausgang der Eskalation sein können.

Um solche Defizite zu beseitigen, hat der Konfliktforscher Friedrich Glasl ein differenzierteres Konflikteskalations-Modell entwickelt. Es bietet einen detaillierten Einblick in die Konflikteskalation und umfasst drei Ebenen und neun Stufen. Anhand dieses Modells kann man aufbauende Situationen nachvollziehen und analysieren.

Ein Beispiel: Der Konfliktpartner X ist seiner Meinung nach in einer Debatte nach Glasl. Der andere Konfliktpartner Y beschimpft, beleidigt und bereitet sich auf einen Angriff auf X vor. Für X kommt dieser Angriff überraschend, wobei dieser Angriff aber eigentlich vorhersehbar ist. X hätte sich auf einen Angriff mental, verbal und nonverbal vorbereiten und Abwehrmaßnahmen ergreifen können. X wäre fertig für einen Schlagabtausch gewesen, hätte über die sogenannte Schlagfertigkeit verfügt.

Grundlage zum Verstehen einer Konflikteskalation ist die Kommunikation; besonders wichtig nach dem Kommunikationssystem von Watzlawick (siehe das entsprechende Kapitel) sind das zweite Axiom „Inhalts- und Beziehungsebene“ (die Beziehungsebene bestimmt den Inhalt) und das dritte „Ursache und Wirkung“ (Aktion und Reaktion). Weitere Hauptrollen spielen Erfahrungen und Erwartungen so wie die individuelle Moralvorstellung.

Doch nun zu den Phasen nach Glasl im Einzelnen:

  1. Die Vorkonfliktphase

In der Vorkonfliktphase sind die Partner unvoreingenommen und gehen offen in ein Gespräch (Kommunikation). Besteht eventuell eine negative Erfahrung mit dem Gesprächspartner, kann es sein, dass man durch diese negative Erfahrung Kommunikationsinhalte von Anfang an negativ bewertet. So wäre man schon, ohne sich dessen bewusst zu sein, in einer Konflikteskalation nach dem Modell von Glasl.

  1. Die Verhärtung

Die Verhärtung ist der Beginn einer Konflikteskalation. Sie findet ständig statt und wird daher im Alltagsleben nicht als der Beginn eines Konflikts erkannt. Eine Information, Gestik und Mimik oder ein gesprochenes Wort – das alles kann von einem der Gesprächspartner negativ interpretiert werden. Diese negativen Gedanken produzieren negative Emotionen, die wiederum durch Handlungen (Gestiken) sichtbar werden. Diese Handlungen können kleinste, fast unmerkliche Reaktionen sein. Oft sind es Gesten wie Stirnrunzeln, ein leichtes Zurücklehnen oder ähnliches. Während einer Verhärtung werden die ersten Kampfhormone produziert.

  1. Die Debatte

Die Störung auf der Beziehungsebene, folglich auch auf der Sachebene, nimmt zu. Negative Emotionen nehmen zu. Mehr Emotionen bedeuten auch mehr Energie und dadurch heftigere Gestik und ausgeprägtere Mimik. Bestimmte Gesprächsstrategien werden genutzt, um der eigenen Meinung mehr Nachdruck zu verleihen; zum Beispiel, dass man sein Gegenüber nicht aussprechen lässt. Während einer Debatte sind die Gesprächspartner noch in einem Dialog. Es ist noch der Versuch, eine gemeinsame Lösung zu finden.

Acht Punkte zur Situationskontrolle in der Debatte:

  1. Harte Standpunkte, harte Interessen! (Schwarz-Weiß-Denken)
  2. Aktiv zuhören, was erzählt der andere über sich?
  3. Wie kompromissbereit ist unser Gegenüber, sind wir?
  4. Fokus auf Interessen statt auf Positionen setzen. Beide Positionen sollten befriedigt werden.
  5. Besteht schon ein Versuch von Machtausübung?
  6. Wie konsequent ist dieser Versuch?
  7. Falls Machtausübung stattfindet, sollte man sich ein Bild über Machtverhältnisse machen. Wie viel Macht hat unser Gegenüber, wie viel Macht habe ich?
  8. Wahrnehmung steigern.
  1. Taten ohne Worte

Der Dialog wird beendet. Ein gemeinsames Ziel wird nicht mehr verfolgt und der Gesprächspartner wendet sich ab. Die Beziehung zwischen den Parteien ist auf einem Tiefpunkt angelangt, Mitgefühl ist nicht mehr vorhanden. Kampf- und Fluchthormone werden vermehrt produziert. Durch die Aktivierung des Reptiliengehirns fehlen wortwörtlich die Worte.

  1. Sorge um das eigene Image / Koalitionen

Es werden Sympathisanten für die eigenen Interessen gesucht. Man grummelt vor sich hin, ärgert sich laut oder versucht auf andere Art und Weise, Aufmerksamkeit von Menschen zu erregen, damit man sie auf die eigene Seite bringen kann. Auf dieser Stufe beginnt ein Kampf um die eigene Position und den eigenen Ruf.

  1. Gesichtsverlust

Es finden Übergriffe statt mit dem Ziel, durch Denunzierung den Ruf des anderen zu beschädigen. Beleidigungen sollen den anderen emotional verletzen und Reaktionen hervorrufen.

  1. Drohstrategien

Mit Drohungen wird versucht, Macht auszuüben. Ein bekanntes Beispiel für Drohungen sind die „Wenn-dann-Aussagen“. An Gestik und Mimik kann man oft eine hohe Emotionalität erkennen. Aber Drohungen müssen nicht immer mit einer hohen Emotionalität ausgesprochen werden. Sie können auch leise und unspektakulär sein. Eine Drohung bleibt trotzdem immer eine Drohung.

  1. Begrenzte Vernichtung

Der Mensch wird als Mensch abgewertet. Beschimpfungen wie „Drecksau“ oder „Ratte“ können vorkommen. Erste körperliche Kontakte wie Schubsen, an den Kragen fassen usw.

  1. Zersplitterung

Es wird versucht, Unterstützer einzuschüchtern. Wie bei Jagdstrategien von Raubtieren geht es darum, das Opfer von seinen Unterstützern (seiner Herde) zu isolieren, um dann über das Opfer herfallen zu können.

  1. Gemeinsam in den Abgrund

Eigene Verletzungen oder Verluste werden in Kauf genommen. Die Vernichtung des Gegners hat Priorität. Am Ende stehen Verletzungen, Leid und Elend auf beiden Seiten.