Das Leben ist wie eine Münze, es hat immer zwei Seiten. So kann es kein „gut“ ohne „böse“, kein „Gedeih“ ohne „Verderb“, kein „links“ ohne „rechts“, kein „rauf“ ohne „runter“ und kein „beugen“ ohne „strecken“ geben. Es sind immer die zwei Seiten, die bei einer Unausgewogenheit zu einem Konflikt führen. Sind die beiden Seiten ausgewogen, ist alles im Einklang. Sind die zwei Seiten unausgewogen, entsteht ein Konflikt, der immer durch einen Zweikampf ausgelöst wird, einen Zweikampf zwischen „Engelchen“ und „Teufelchen“ – den beiden Motivationsebenen, welche die Gedanken und Handlungen eines Menschen bestimmen. Durch den Konflikt zwischen „Engelchen“ und „Teufelchen“ entsteht ein Gefühl der Einsamkeit, denn es handelt sich um Entscheidungen, die jeder für sich selbst treffen muss, bei denen kein anderer Mensch helfen kann.
„Engelchen“ und „Teufelchen“ kann man auch als das „Für und Wider“ bezeichnen. Sie sind bedeutsam dafür, wohin eine Reise geht, wobei die Entscheidungsfindung immer mit Zweifeln verbunden ist. Die Zweifel, also die inneren Konflikte, bewegen die Menschen dazu, sich an höhere Instanzen zu wenden, wie zum Beispiel an die Ahnen oder an Gott. In der Esoterik wird nach Zeichen und Hinweisen für die richtige Entscheidung gesucht und generell können andere Menschen als Entscheidungshelfer beraten und unterstützen. In der Entscheidung selbst aber entsteht neben dem Gefühl des Alleingelassenseins auch der Zweifel, die richtige Entscheidung zu treffen. Trifft man seine eigenen Entscheidungen nicht selbst, treffen irgendwann andere diese Entscheidungen für einen. Somit fangen andere Menschen an, über das eigene Leben zu bestimmen. Es ist die Angst vor der Verantwortung, zwischen „Engelchen“ und „Teufelchen“ entscheiden zu müssen, und die Angst vor dem Gefühl der Einsamkeit. Dieses Gefühl der Einsamkeit kennen sehr viele, dabei ist es egal, ob man allein oder von Menschen umgeben ist. Lebt man beispielsweise in einer Gruppe, nehmen wir das Beispiel einer Familie, ist trotzdem das Gefühl der Einsamkeit nicht selten. Nach außen mag der Schein einer starken einheitlichen Gruppe aufrechterhalten werden, innerlich kann eine Gruppe trotzdem gespalten sein: gespalten in einzelne Individuen, die sich im Kampf um Positionen befinden. Es stehen wieder die einsamen Entscheidungen an, die man zum „Für und Wider“ im Bezug zur Gruppe und auch für sein eigenes Wohl treffen muss.
In der Einsamkeit erlebt man seine Konflikte, Kriege und Kämpfe oder den Frieden ganz für sich allein. Krieg und Frieden sind die zwei Seiten der Münze, denn nur über den Krieg (innerer Kampf) kann ein Friede (innerer Friede) entstehen. Hier kommt die Waage der Gerechtigkeit ins Spiel, die beide Seiten der Münze gegeneinander abwiegt. Die Waage der Gerechtigkeit wägt die Entscheidungen und Taten zwischen „Engelchen“ und „Teufelchen“, dem „Für und Wider“ ab und evaluiert „gute“ und „schlechte“ und hält sie in einer Balance. Die Waage der Gerechtigkeit stellt die Ausgewogenheit der Werte dar.
Unsere Grundwerte sind moralische Werte. Es ist die Balance der Waage, die uns ein Gefühl der Gerechtigkeit vermittelt. Wie schwer wiegt ein Gedanke oder eine Handlung? Ein Extrem wird über ein anderes Extrem ausgeglichen. Der Kontrapunkt der Extreme ist die Mitte – es ist immer die Mitte, die Balance, die Ausgewogenheit, die das Gefühl der Gerechtigkeit anzeigt. Der Mensch hat viele schlechte Gedanken, die zu Taten werden. Dies besingen zum Beispiel „Die Toten Hosen“ in ihrem Lied „Paradies“, unter anderem mit den Worten: „Ich will nicht ins Paradies, wenn der Weg dorthin so schwierig ist.“ Im gleichen Song wird das Leben als Prüfung beschrieben.
Würde dem Menschen das „Gute“ leichtfallen, müsste es keine Gesetze geben, die den Menschen vom „Bösen“ abhalten. Er müsste in seiner „Bösartigkeit“ nicht reguliert sein. Wäre der Mensch ausgeglichen, wäre eine Prüfung/Regulierung unnötig. Um eine bessere Balance der Waage zu erreichen, existieren Buße, Sühne und auch Rache. Niemand büßt, sühnt oder nimmt Rache für gute Gedanken oder gute Taten, nur für schlechte. Dazu kommt immer die Frage: „Wie schwer wiegt die Schuld?“ Niemals wird gefragt: „Wie schwer wiegt das Gute?“ Ist die Waage der Gerechtigkeit nicht in der Balance, entstehen Spannungen und Gefühle der Ungerechtigkeit und Unausgeglichenheit. Die Balance im Leben besteht darin, die schwere, belastete Seite seines Selbst zu entdecken und ein Gleichgewicht der Werte herzustellen. Nur mit beiden Seiten einer Münze, den Seiten „Krieg“ und „Frieden“ kann man eine Balance herstellen. Dies zeigt das Prinzip eines erleuchteten Buddha.
Ein Buddha lebt sanftmütig in einer Welt des Kampfes.
Er verweilt suchtlos in einer Welt der Süchte.
Er ruht leidbefreit in einer Welt des Leidens.
Nirwana ist das höchste Glück.
Gut ist es, einen Erleuchteten zu treffen.
Sein Licht erhellt die Welt.
Seine Weisheit weist den Weg zum Glück.
Nyānatiloka Mahāthera: Dhammapada. Worte des Buddha
Das Leben eines Menschen kann demnach suchtlos in einer Welt der Süchte sein. Kann es auch wertlos in einer Welt von Werten sein? Kann der Mensch ohne die höchsten materiellen Werte im Leben wie Luft, Essen und Trinken überleben? Das Nichtvorhandensein dieser essenziellen physischen Werte kostet den Menschen sein Leben – und das eigene Leben ist der allerhöchste Wert. Wenn Werte das Leben bestimmen, steht am Ende für uns der Selbstwert. Solange der Mensch aber seinen Selbstwert nur über egozentrische Positionen – sein eigenes Gefühl von Gerechtigkeit und das eigene Gefühl der Ausgewogenheit – definiert, lebt er in einer Welt voller Konflikte. Über die Selbsterkenntnis besteht die Möglichkeit, auch mehr Empathie für andere Menschen zu empfinden, die wiederum zu Toleranz dem anderen gegenüber führt. Hierbei darf man nicht vergessen, dass auch Krankheiten im Spiel des Lebens und im Spiel der Konflikte eine Rolle spielen. Über die eigene Toleranz kann der Mensch Sanftmütigkeit in einer Welt des Kampfes entwickeln und einen Weg zum Frieden finden.
Selbsterkenntnis kann man erreichen, indem man wie ein Fotograf seinen Standpunkt und seine Haltung und hierdurch auch seinen Blickwinkel auf ein Objekt beziehungsweise eine Situation verändert. Am besten nimmt man die Vogelperspektive ein und betrachtet eine Situation von oben. Über die Kommunikation kann man sein eigenes Handeln erkennen und seine Emotionen analysieren: Warum hat man in dieser Situation auf diese Art und Weise gehandelt? Vielleicht erkennt man, dass eine bestimmte Handlung eine Folge der eigenen Kindheit ist. Solche Erkenntnisse sind nicht selten, denn die Familie ist die erste und prägendste Gruppe im Leben. Man darf nicht vergessen, dass auch Eltern eine Last aus ihrer Kindheit mit sich tragen und dass kein Mensch perfekt ist. Als erwachsener Mensch kann man über die Eltern schimpfen, sein eigenes persönliches Unglück auf sie zurückführen und dort verharren, wo man steht. Oder man erkennt einen Ist-Zustand und versucht, aus der aktuellen Situation das Beste zu machen: sich der Aufgabe als Kämpfer für sein eigenes Leben, seine eigenen Konflikte zu stellen, seinen Blickwinkel zu verändern und seinen Charakter zu schulen. Ziel ist es, sich mit seinen inneren Kämpfen zu konfrontieren und Frieden zu finden.
Die Kampfkunst ist kein Allheilmittel, sondern eine Unterstützung, genauso wie Ärzte und Therapeuten nur Unterstützung bieten. Die eigentliche Hilfe und die Veränderung liegen in einem selbst. Die Frage: „Was tue ich, damit sich eine Situation verändert, und wie viel Aufwand betreibe ich, dass eine Situation so bleibt, wie sie ist?“, sollte man sich stellen. Um die Frage zu beantworten, muss einem die eigene Angst vor Veränderung bewusst sein.