Mental Coaching ähnelt einer Verhaltenstherapie. Beide helfen, Ordnung ins Durcheinander der menschlichen Gedanken und Gefühle zu bringen. Beide Systeme bauen auf die Selbstfindung und die damit verbundene Erhöhung des Selbstwerts und des Selbstbewusstseins auf. Das Ziel ist, die Selbstwirksamkeit eines Menschen zu erhöhen. Mental Coaching eignet sich aber nur für gesunde Menschen, die zum Beispiel eine kurzzeitige Krise erleben und Unterstützung bei dem Erreichen von Zielen benötigen. Die Verhaltenstherapie dagegen wendet sich an einen sehr viel größeren Adressatenkreis. Ihr Einsatzbereich umfasst die Unterstützung gesunder Menschen, aber auch die Behandlung pathologischer Krankheitsbilder, wie zum Beispiel Depressionen, Burn-Out, Angststörungen oder narzisstische Persönlichkeitsstörungen. Mental Coaching wie auch die Verhaltenstherapie sind nur erfolgreich, wenn der Mensch intrinsisch motiviert ist. Das bedeutet, dass man von sich aus etwas ändern möchte und bereit ist, an sich (seinem Charakter) zu arbeiten. Wird man von anderen zum Coach oder zu einer Verhaltenstherapie geschickt (extrinsisch motiviert), wird es kaum bis gar keinen Erfolg geben.
Stimmungsschwankungen können auch durch Erkrankungen von Organen ausgelöst werden. Betrachten wir als Beispiel die Schilddrüsenerkrankung Hashimoto-Thyreoiditis. Die Schilddrüse produziert lebenswichtige Hormone. Hashimoto-Thyreoiditis ist eine Autoimmunerkrankung der Schilddrüse, bei der sich das Immunsystem gegen die Schilddrüse richtet und diese zerstört. Die Hormonproduktion ist gestört, was sich seelisch wie körperlich bemerkbar macht, und wenn der Hormonhaushalt nicht stimmt und eine Unordnung der Hormone besteht, verändert diese Unordnung die Stimmung. Symptome einer Schilddrüsenunterfunktion können zum Beispiel Erschöpfung, Schwäche und Müdigkeit sein. Dasselbe gilt auch für andere Hormone wie das Geschlechtshormon Testosteron. Ist die Produktion von Testosteron bei einem Mann gestört, sind Symptome, wie zum Beispiel Leistungsverlust, Depressionen, Antriebslosigkeit und Stimmungsschwankungen, keine Seltenheit. Oft werden diese Stimmungsschwankungen dem Charakter eines Menschen zugeordnet, wobei jedoch zu bedenken ist, dass sie auch durch eine Unordnung der Hormone ausgelöst werden können. Den Hormonhaushalt prüft und behandelt ein Endokrinologe.
Anhand einer kleinen Geschichte möchte ich das Prinzip des Mental Coachings etwas verdeutlichen. Eine junge Frau namens Julia bat mich um Rat. Sie hatte berufliche Probleme mit ihrer Abteilungsleiterin. Diese war unfreundlich, meckerte und nörgelte an allem herum, was Julia tat. Julia hatte nach kurzer Zeit das Gefühl, alles falsch zu machen. Ihr Selbstwert und das Selbstbewusstsein waren stark angegriffen. Nicht nur bei der Arbeit, sondern auch im privaten Bereich spürte Julia die Folgen dieser ständigen Abwertung. Gemäß der Theorie der Ordnung war Julia ungeordnet und durcheinander, ihr Selbstbild war gestört.
Julia erzählte mir, dass sie am liebsten einen neuen Job suchen würde, und fragte mich, was ich darüber denke. Daraufhin bot ich Julia eine Art Vergleich an und bat sie, sich in einen Sessel zu setzen. Dieser Sessel war die Verkörperung ihrer Arbeit. Es dauerte nicht lange, bis Julia wegen ihrer seelischen Anspannung anfing zu weinen. Als sie sich wieder beruhigt hatte, forderte ich sie auf, in einem anderen, identischen Sessel Platz zu nehmen. Dieser verkörperte ihren neuen Job. Julia war lockerer, sie wirkte sogar erleichtert und froh. Damit Julia ein Verständnis für ihre Situation auf ihrer Arbeit bekam, erklärte ich ihr die Zusammenhänge von Beziehungen, Werten und Macht. Danach fokussierten wir auf ihre Abteilungsleiterin und erkannten, wie sehr diese unter Druck stand. Ob es ein persönlich auferlegter oder Druck durch einen Vorgesetzten war, konnten wir zwar nicht wissen, aber Julia verstand, dass die Machtausübung der Abteilungsleiterin einen Hintergrund hatte – nämlich, dass diese ihre Aufgaben nicht allein bewältigen konnte. Sie brauchte Julia, war aber nicht in der Lage, dies vernünftig zu kommunizieren. Julia durchschaute diese Zusammenhänge und erkannte, dass sie selbst gar nicht das Problem war. Als nächstes bekam Julia Aufgaben, die sie in Konfliktsituationen mit ihrer Abteilungsleiterin erfüllen sollte.
- Julia sollte sich selbst im Umgang mit ihrer Abteilungsleiterin beobachten.
- Was passierte in ihr, wie veränderte sich ihre Stimmung und ihre gesamte Haltung?
- Julia sollte sich darüber Notizen machen, was die Abteilungsleiterin sagt.
- Julia sollte die Abteilungsleiterin während des Schimpfens und Meckerns beobachten.
Julia erschien zum nächsten Gespräch mit einigen Notizen. Als erstes fragte ich sie, inwieweit sich ihre Chefin in dieser Zeit verändert habe. Julia hatte bemerkt, dass die Übergriffe sich abschwächten und die Abteilungsleiterin sich in der Beziehung zu Julia etwas veränderte. Julia beeinflusste durch ihre eigene Haltung die Haltung ihrer Abteilungsleiterin. Sie war während des Meckerns und Schimpfens beschäftigt, denn sie hatte ihre Aufgaben zu erfüllen und war mit Schreiben und Beobachten ausgelastet. So kamen diese Abwertungen nicht mehr an sie heran. Die modifizierte Haltung Julias war der Anfang weiterer Veränderungen. Gemeinsam sahen wir uns ihre gesammelten Informationen an:
Zu 1/2: Julia bemerkte, dass sie nicht mehr sofort in sich zusammenbrach, sobald die Abteilungsleiterin lospolterte. Ihr Selbstbewusstsein war gestiegen und dies zeigte sich in ihrer Haltung.
Zu 3: Wir analysierten die verbalen Angriffe der Abteilungsleiterin. Wir erkannten schnell ein Schema von wiederkehrenden Aussagen. (Dies hat mit der spezifischen Arbeitsweise des Gehirns zu tun, das schnelle Lösungen präferiert und so zu Automatismen führt; siehe Kapitel „Bewusstsein“)
Zu 4: Julia hatte eine Veränderung im Verhalten der Abteilungsleiterin ihr gegenüber bemerkt.
Julia und ich erarbeiteten nun Antworten auf die verbalen Angriffe, die Julia sich auf einen Zettel schrieb, den sie bei der Arbeit mit sich tragen sollte. Diese Antworten zielten auf die Sachebene und waren nicht anklagend oder abwertend, es ging also „rein um die Sache“. Die Aufzeichnungen sollten dazu dienen, dass Julia, falls sie bei einem Angriff der Abteilungsleiterin in den Kampf- und Fluchtmodus versetzt werden würde, noch die Möglichkeit hatte, in vernünftiger Weise zu antworten. Das gab Julia Sicherheit. Man kann auch sagen, Julia hat sich „bewaffnet“ und diese Bewaffnung verstärkte ihr Selbstbewusstsein.
Als Julia und ich uns das letzte Mal zu einem Gespräch über ihre Arbeit trafen, sah ich eine ganz andere Julia vor mir. Sie wollte ihre Arbeitsstelle nicht mehr wechseln und kam sehr gut mit ihrer Abteilungsleiterin aus. Ihre Beziehung hatte sich so weit verbessert, dass sie freundlich miteinander umgingen, was wiederum einen positiven Einfluss auf die gemeinsame Arbeit ausübte. Das bessere Arbeitsklima und die bessere Arbeitsmoral nahmen den Druck von Julias Abteilungsleiterin. Beide waren entspannter und hatten wieder mehr Freude an ihrer Arbeit.
Was ist genau geschehen?
Am Anfang war der Pygmalion-Effekt zu beobachten (siehe Kapitel „Erfahrung erzeugt Erwartung“): Julia hatte wenig Selbstsicherheit ausgestrahlt, so dass ihre Abteilungsleiterin sich ermutigt fühlte, übergriffig zu werden. Dieser Effekt verstärkte sich mit der Zeit. Bei Julia wurde das Stresslevel immer höher, und sie verfiel ständig in den Fight or Flight-Modus (siehe Kapitel „Kampf oder Flucht – Fight or Flight-Modus“). Das wiederum führte dazu, dass Julia immer weniger Leistung erbringen konnte. Durch die fehlende Leistung fühlte sich die Abteilungsleiterin bestätigt und verstärkte die Übergriffe. Dies ist eine Form des von Paul Watzlawick für die Kommunikation beschriebenen Teufelskreises (siehe Kapitel „Kommunikation“). Der Kommunikationsstil war aggressiv-entwertend. Über die Selbstkundgabe der Abteilungsleiterin wurde deutlich, dass diese ihrer persönlichen Belastung nicht standhielt und Julia daher angriff. Auf der Appellebene hatte die Abteilungsleiterin mehr Leistung von Julia gefordert. Und ihre Übergriffe zeigten auf, dass sie sich auf der persönlichen Beziehungsebene deutlich über Julia sah. Da die Sach- oder Informationsebene von Julia dokumentiert worden war, konnten hierüber die persönliche Beziehung zwischen beiden und auch ihre Emotionen geordnet werden. Dadurch kamen auch der Arbeitsprozess und das Verhalten beider Frauen wieder in Ordnung. Sie haben die Erfahrung gemacht, dass sie auch Krisenzeiten miteinander überstehen können, was gegenseitiges Vertrauen und die Erwartung aufgebaut hat, dass es auf diese Weise gut weiterlaufen kann.
Was den Aspekt der Manipulation betrifft (siehe das entsprechende Kapitel), so habe ich bei diesem Beispiel manipuliert, indem ich Julia durch Verständnis, Zuversicht und Vertrauen ein Licht am Ende des Tunnels gezeigt habe. Das war wichtig, damit Julia sich auf das „Spiel“ einließ. Wenn man den Vergleich des Lebens mit einem Schauspiel heranzieht, stand Julia auf einer Theaterbühne und das Stück hieß „Arbeitsplatz“. Julia kannte ihre Rolle und ihren Text nicht. Als Julia dann aber wusste, welchen Text sie können und wie sich verhalten muss, wurde das Theaterstück ein Erfolg.
Wenn man eine solche Form der Konfliktbewältigung mit dem Selbstschutz und der Selbstverteidigung vergleicht, so scheinen Gemeinsamkeiten zwischen Mental Coaches und Kampfsporttrainern beziehungsweise Meistern auf – sie sind Prozessbegleiter für gesunde Menschen. Sie helfen und unterstützen diese auf ihrem Weg und sind Experten im Bereich des Konfliktes. Der Kampfsporttrainer ist prozessbegleitend im Bereich der körperlichen Konfliktbewältigung. Dagegen ist der Mental Coach prozessbegleitend für den Bereich der inneren/seelischen Konfliktbewältigung. Kampfsporttrainer und Mental Coach bilden zusammen genau die Einheit, die in ähnlicher Form in Asien als Kampfkunst aufgefasst wird: die Lehre von den inneren und äußeren Konflikten. Kampfkunst, Kampfsport und auch das Mental Coaching können bei tatsächlichen Erkrankungen aber lediglich unterstützend sein.
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